Was Den Menschen Zum Menschen Macht: Die Göttlich
Allāh, der Erhabene, hat Himmel und Erde erschaffen, auf dass sie den Menschen zu Diensten seien. Zugleich hat Er sie jedoch sowohl in Hinblick auf ihre Umgebung als auch, was die Verantwortung vor ihrem Schöpfer anbelangt, keineswegs sich selbst überlassen. Genauer gesagt hat Allāh, der Erhabene, sowohl das Universum als auch die Menschheit bestimmten göttlichen Gesetzmäßigkeiten unterworfen und dabei in dieser Welt der Prüfungen ein fein abgestimmtes Gleichgewicht zwischen Freiheit und Verantwortung festgelegt, wie in dem folgenden Vers zum Ausdruck kommt: {Er hat den Himmel hoch aufgerichtet und die Waage aufgestellt, auf dass ihr das Maß nicht überschreitet.} Das bedeutet, dass es die Aufgabe der Menschen ist, sich in harmonischer Weise in die gesamte Schöpfung einzuordnen. Genau so, wie in diesem gewaltigen Universum nicht das geringste Ungleichgewicht zu verzeichnen ist, sollte auch der Mensch auf dem Weg zum Wohlgefallen seines allmächtigen Schöpfers keinerlei Abweichungen vom geraden Kurs zulassen. Nur jene, denen es gelingt, dieses Gleichgewicht im Verlauf ihres Lebens aufrecht zu erhalten, werden wahre Erkenntnis und das höchste Glück in beiden Welten erlangen. Jene hingegen, die ein Leben in ständigem Ungleichgewicht führen, indem sie fortwährend ihren vergänglichen Begierden und kurzlebigen Vergnügungen nachlaufen, bleiben in Unwissenheit gefangen und die Geheimnisse ihres Kommens und Gehens in dieser Welt bleiben ihnen verschlossen. Sie sind unfähig, sich in die göttliche Harmonie, die sich im gesamten Universum widerspiegelt, einzufügen, geschweige denn, diese zu begreifen. Welch eine Schande ist es, wie sie ihr ganzes Leben gefangen in den Strudeln der Achtlosigkeit und Verirrung verschwenden, woraufhin sie im Jenseits noch weit größerer Verlust erwartet.
Des Rätsels Lösung liegt in der Wirklichkeit des Menschen selbst verborgen. Denn es ist eine Tatsache, dass der Mensch, da er zur Prüfung in diese Welt gesandt wurde, mit der Fähigkeit, sowohl Gutes als auch Schlechtes zu tun, erschaffen wurde, weil eine Prüfung logischerweise voraussetzt, dass eine Wahl zwischen zwei Möglichkeiten gegeben sein muss.
Demzufolge besteht das menschliche Leben sowohl innerlich als auch äußerlich aus einer beständigen Auseinandersetzung zwischen Gut und Böse. Beide versuchen, Herrschaft über das Wesen des Menschen zu erlangen. Genau so, wie ihm die Kraft des Guten innewohnt, besitzt er, wenn sein Ego keiner Erziehung unterzogen wird, eine ebenso starke, ungebändigte Kraft, Schlechtes zu tun. Die Kräfte des Verstandes, der Erkenntnisfähigkeit und des Willens allein sind nicht ausreichend, um dem Guten in dieser ununterbrochenen Schlacht zum Sieg über das Schlechte zu verhelfen. Denn wären sie allein genug, hätte Allāh, der Allmächtige, nicht Ādam, den ersten Menschen, mit der Gabe des Prophetentums ausgestattet und ihm jene göttlichen Wirklichkeiten offenbart, die dem Menschen das Glück in beiden Welten zuteil werden lassen. Doch Allāh, der Erhabene, hat die Menschheit stets durch Seine Offenbarungen mit Hilfe Seiner Propheten auf den Weg der Wahrheit geleitet. Indem er sie durch die Offenbarung Seiner Heiligen Schriften stärkte, unterzog Er sowohl ihren Verstand als auch ihre Herzen einer spirituellen Erziehung.
Der Verstand gleicht einem zweischneidigen Schwert, mit dessen Hilfe man sowohl Verbrechen begehen als auch tugendhafte Taten verrichten kann. In der Tat ist die als ahsanu taqwīm bekannte Stufe, das heißt die „vorzüglichste Gestalt“ des Menschen, nicht ohne Benutzung des Verstandes zu erreichen, doch häufiger noch stürzt dieser den Menschen auf die mit den Worten bal hum adall [„doch sie sind noch irregeleiteter“] beschriebene Stufe hinab, die selbst unterhalb der Bewusstseinsstufe der Tiere liegt. Aus diesem Grund ist es notwendig, dass der Mensch sein Denken einer Disziplin in Form von Anleitung durch die göttliche Offenbarung und die Lehren der Propheten unterwirft. Wenn der Mensch sein Denken von der göttlichen Offenbarung leiten lässt, kann der Verstand ihn ans sichere Ufer retten, wenn nicht, findet er in den Wogen der Irreleitung ein tragisches Ende. Aus diesem Grund braucht der Verstand Führung durch den göttlichen Willen Allāhs.
Die Menschheitsgeschichte hat zahllose Tyrannen hervorgebracht, die über ausgezeichnete Intelligenz verfügten und dennoch ohne die geringsten Gewissensbisse die schrecklichsten Massaker angerichtet haben. Dabei rechtfertigten sie ihre Grausamkeiten als das logischste und vernünftigste Verhalten. Der mongolische Eroberer Hulagu zum Beispiel ertränkte im Verlauf seiner Eroberung Bagdads 400.000 unschuldige Menschen im Tigris, ohne dass ihn dabei ein schlechtes Gewissen geplagt hätte, während die Bewohner Mekkas in der vorislamischen Zeit der Unwissenheit ihre unerwünschten neugeborenen Töchter unter dem stummen Wehklagen ihrer Mütter bei lebendigem Leibe zu begraben pflegten; und einen ihrer Sklaven umzubringen war für sie eine absolut legitime Handlung, vergleichbar dem Fällen eines Baumes.
Diese Menschen besaßen allesamt Verstand und Gefühle. Doch gleich einem Zahnrad, das verkehrt herum läuft, leiteten diese Fähigkeiten sie nicht in die eigentlich vorgesehene Richtung.
All dies zeigt, dass Menschen Geschöpfe sind, die ein angeborenes, natürliches Bedürfnis nach Führung und Rechtleitung besitzen, weil sie sowohl positive als auch negative Züge in sich tragen. Die Führung, die dem Menschen zuteil wird, muss wiederum mit der ihm innewohnenden, gottgegebenen Veranlagung im Einklang stehen, und dies ist nur durch eine Erziehung im Sinne der göttlichen Offenbarung, das heißt durch die Verkündigung und Rechtleitung der Propheten, möglich. Eine Erziehung, die im Gegensatz zu dieser natürlichen Veranlagung des Menschen steht, wird hingegen nur Schaden anrichten und zu allen möglichen Formen von Schlechtigkeit und Übel führen.
Ein prägender Charakterzug in einem Menschen – welcher auch immer das sein mag – bedingt zugleich die Abwesenheit seines Gegenteils. Wenn das Gute dominiert, kann das Schlechte sich nicht entfalten. Wenn dagegen dem Schlechten die Oberhand gelassen wird, versucht es, alles Gute zu ersticken. Der Widerstreit im Inneren des Menschen dauert ein Leben lang. Darum hat Allāh in Seiner Gnade der Menschheit Seine Propheten und vertrauten Gottesfreunde zur Rechtleitung und Erziehung gesandt. Nur jene, die unter deren geschickten, die rechte Eingebung vermittelnden und gesegneten Händen heranwachsen, sind fähig, die Gärten der Schönheit in ihrem Inneren erblühen zu lassen. Bei ihnen verwandeln sich die winterlich frostigen Landschaften negativer Charakterzüge in herrlich duftende, frühlingshafte Rosengärten. Auf diese Weise wurden aus jenen wilden Menschen des Jāhiliyya genannten Zeitalters der vorislamischen Unwissenheit, die zuvor ihre Töchter bei lebendigem Leibe begraben hatten, durch die Rechtleitung unseres ehrwürdigen Propheten die vortrefflichsten Persönlichkeiten der gesamten Menschheitsgeschichte.
In der Tat wird denen, die sich aufrichtig an die Rechtleitung der Propheten halten, die würdige Rangstufe lobenswerter Gottesdiener zuteil, die Allāh, dem Erhabenen, wohlgefällig sind. Hingegen sind jene, die sich dieser Rechtleitung verweigern, in der göttlichen Prüfung, in welcher das Ego der Seele im Kampf gegenübersteht, zum Scheitern und zum Absturz in die tiefsten Abgründe verurteilt. Tatsächlich wurde den Menschenkindern das irdische Leben deswegen auferlegt, um herauszufinden, für welchen der beiden Wege sie sich entscheiden würden. Der Mensch steuert entsprechend seiner inneren Neigungen mithilfe seines Willens in eine der beiden Richtungen; wobei die Richtung vom Ergebnis des Widerstreits zwischen seinem Ego und seiner Seele abhängt. Doch während dieser innere Kampf tobt, ist er vielerlei Einflüssen ausgesetzt.
Ein Spaziergang durch einen Rosengarten lässt einen mit dem wunderbaren Duft der Rosen zurück, während ein Aufenthalt auf der Müllhalde mit Sicherheit auch nicht ohne Spuren bleiben wird. Derartige äußere Einflüsse sind leicht erkennbar. Deshalb ist der Mensch unter allen Geschöpfen dasjenige, welches am meisten der Rechtleitung, der Erziehung und Läuterung seines Wesens bedarf.
Das Hinabstürzen eines Menschen in die Abgründe der Verwerflichkeit ist zumeist eine Folge der Erfahrung scheinbar unlösbarer innerer und äußerer Konflikte. Ursache dieser Konflikte ist vor allem die Tatsache, dass der Mensch in seinem Innern sowohl die höchsten Tugenden, welche es ihm ermöglichen, vertraute Nähe zu seinem Schöpfer zu erlangen, als auch die verabscheuenswürdigsten bestialischen Wesenszüge vereint.
Infolge dessen gleicht die innere Welt derjenigen, denen nicht jene prophetische Erziehung zuteil geworden ist und deren Herzen noch keinen Frieden gefunden haben, einem Dschungel, der von den verschiedensten Arten wilder Tiere durchstreift wird.
Versteckt unter ihren verschiedenen Temperamenten tragen sie bestimmte tierische Charaktereigenschaften in sich. Manche sind schlau wie Füchse, andere blutrünstig wie Hyänen, während wieder andere Ameisen gleichen, die riesige Haufen auftürmen, oder giftigen Schlangen ähneln. Manche umgarnen ihre Opfer mit Liebkosungen, bevor sie zubeißen, während andere Blut saugen wie die Egel; und wieder andere verbergen ihr verräterisches Wesen hinter einem freundlichen Lächeln. All dies sind ganz spezielle Eigenschaften bestimmter Tiere.
Ein Mensch, der sich nicht durch eine spirituelle Erziehung von der Herrschaft seines Egos befreien kann, um einen aufrechten Charakter zu erwerben, ist ganz und gar dem fortwährend auf ihn eindrängenden Einfluss dieser erbärmlichen Eigenschaften ausgeliefert. Manche Persönlichkeit wird von den Eigenschaften eines einzigen Tieres bestimmt, während andere von einer Kombination mehrerer animalischer Attribute dominiert werden. Darüber hinaus ist es – da sich das innere Wesen eines Menschen in seinem Äußeren widerspiegelt – für jene, die dazu befähigt sind, keine Schwierigkeit, ihre verborgenen Charakterzüge zu erkennen. Ihr Verhalten gleicht einem Spiegel, welcher ohne zu lügen ihre innere Welt reflektiert.
Ist nicht der Kommunismus, ein System welches seine Herrschaft auf den Skeletten von über 20.000 Opfern errichtete, das Spiegelbild eines wilden, grausamen Herzens? Sind nicht die Pyramiden – Friedhöfe für Zigtausende nur um eines Pharaos willen – grauenhafte Zeugnisse brutaler Unterdrückung? Für viele Achtlose sind sie noch immer Meisterwerke der Geschichte, die dem Verstand ihrer Betrachter Ehrfurcht abnötigen. Doch, aus dem Blickwinkel der Wahrheit und der Wirklichkeit betrachtet, sind dies nicht eigentlich schockierende Abbilder höchster Grausamkeit, bösartig genug, die blutrünstigste Hyäne in Angst und Schrecken zu versetzen?
Eine Folge der oben beschriebenen Zusammenhänge ist, dass sich in einer Umgebung, in der die Frösche das Sagen haben, alles in einen Sumpf verwandelt, während unter der Dominanz von Charakteren, die Schlangen oder Skorpionen ähneln, die ganze Gesellschaft deren Terror und Anarchie verbreitendem Gift ausgesetzt ist. Wenn hingegen Charaktere, welche Rosen gleichen, das Geschehen bestimmen, verwandelt sich das ganze Land in einen Rosengarten, dessen Bewohner in innerem und äußerem Frieden versöhnt zusammenleben.
Aus diesen Gründen ist eine Erziehung gemäß den Lehren der göttlichen Offenbarung unerlässlich. Jene, denen diese Erziehung nicht zuteil wurde, tragen stets – selbst wenn sie nach außen hin keinerlei Anzeichen ungezügelter Aggressivität erkennen lassen, sondern sich recht gesittet verhalten – einen latenten Hang zu bestialischem Verhalten in sich; denn jede Art von Tugendhaftigkeit, die nicht auf göttlicher Erziehung beruht, kann nicht von Dauer sein. In schwierigen Zeiten oder extremen Situationen, in denen die Triebkräfte des Egos freigesetzt werden, treten die Aggressivität und das Potential Schlechtes zu tun in jenen, die sich nicht dieser erhabenen Ausbildung unterzogen haben, offen zutage. Ein ungezügeltes Ego gleicht einer Katze, die Appetit auf Mäuse hat. Diese Katze wird, sobald eine Maus in ihrer Nähe auftaucht, ohne zu zögern das vor ihr stehende vorzügliche Futter stehen lassen, um der Maus nachzujagen. Der Mensch verhält sich – wenn er nicht eine Erziehung entsprechend den Maßstäben der göttlichen Offenbarung genossen hat – genau wie diese Katze: So sehr sein Herz auch die zahllosen Schönheiten, die ihm zuteil geworden sind, wertschätzen mag, wird die Katze seines Egos, sobald auch nur in der Ferne eine Maus auftaucht, sein Herz augenblicklich zwingen, dieser nachzujagen, selbst wenn dies seinen Untergang bedeuten sollte. Die Lebensläufe des Fir‘aun [Pharao] oder des Nimrod, geprägt von den Schreckensbildern grausamster Unterdrückung und kaltblütiger Massaker, sind im Grunde nichts anderes als die Geschichten ihrer „Jagd nach Mäusen“.
Wie weit entfernt ist dies von jener göttlichen Erziehung, die nicht nur das Töten unschuldiger Menschen kategorisch verbietet, sondern darüber hinaus größte Sensibilität im Umgang mit den Rechten anderer sowie absolutes Vermeiden jeder noch so kleinen Verletzung dieser Rechte verlangt. Der ehrwürdige Gesandte Allāhs vermied es, auch nur einen grünen Zweig abzubrechen. Auf dem Weg zur Einnahme Mekkas befahl er seinem Heer, ein wenig von der direkten Marschroute abzuweichen, um einer Hündin, die am Wegesrand ihre Jungen stillte, keinen Schrecken einzujagen. Und als er einen brennenden Ameisenhaufen sah, fragte der ehrwürdige Prophet voller Entsetzen: „Wer hat dieses Ameisennest angezündet?“
Ganz und gar durchdrungen vom Geiste des ehrwürdigen Propheten und geformt von seinem allumfassenden Mitgefühl, gründeten die Osmanen zahlreiche wohltätige Stiftungen [waqf, pl.: auqāf], welche einen Höhepunkt der Barmherzigkeit im Dienste der Geschöpfe Allāhs einschließlich der Tiere verkörperten. In der Tat existierten Stiftungen, deren einziger Stiftungszweck darin bestand, Tiere zu versorgen oder zu ernähren. Es sollte uns deshalb nicht wundern, wenn wir in manchen Reiseberichten aus jener Zeit lesen, dass Hunde und Katzen in den muslimischen Stadtvierteln stets die Gegenwart der Menschen suchten, während sie sich in den anderen Stadtteilen verborgen hielten und versteckten, sobald ein Mensch auftauchte.
All dies sind Manifestationen der unterschiedlichen Stufen von Erziehung, die ein Mensch genossen oder eben nicht genossen hat. Der Mensch ist ein Wesen, das soviel Blut vergießt, dass es ausreicht, um das Land zu bewässern, doch der Mensch kann auch derjenige sein, der von seinem eigenen Blut spendet, um einen anderen zu retten, der dessen bedarf.
In dieser Welt leben – aufgrund göttlicher Weisheit – Menschen mit negativen und positiven Charaktereigenschaften Seite an Seite nebeneinander. Dieser Zustand entspricht, um einen treffenden Vergleich zu bemühen, dem erzwungenen Zusammenleben eines lieblichen Rehkitzes in einem Stall mit wilden Raubtieren. Nicht selten lebt ein Geizhals direkt neben einem freigiebigen Wohltäter, ein Ignorant Seite an Seite mit einem Weisen oder ein mitfühlender, barmherziger Mensch neben einem gewissenlosen Unterdrücker. Geizhälse sind unbarmherzig, feige und nicht bereit dazu, anderen einen Dienst zu erweisen. Ein Ignorant ist vollkommen unfähig, einen Weisen zu verstehen; und der Tyrann bildet sich ein, gerecht zu sein, während er ständig seine Macht missbraucht. Kurz gesagt leben in dieser Welt Menschen mit engelsgleichen Seelen direkt neben blutrünstigen Hyänen. Während die einen bemüht sind, die Wahrheit des Göttlichen zu erkennen, zu rechtschaffenen Gottesdienern zu werden und Allāhs Weg zu gehen, meinen die anderen, die in ihrer Verblendung ganz ihren tierischen Instinkten folgen, das Glück bestehe einzig und allein darin, zu essen, sich zu paaren, gesellschaftliches Ansehen zu erringen sowie weitere ähnliche Wünsche und Begierden zu befriedigen.
In einer solchen Welt voller gegensätzlicher Charaktere zu leben ist für den Menschen eine schwere Prüfung, doch wir müssen uns dieser Prüfung stellen und sie bestehen. Denn die Prüfung in dieser Welt zu bestehen und zu unserem erhabenen Herr zurückzukehren ist der eigentliche Daseinszweck des Menschen. Um diese Prüfung zu bestehen, müssen schlechte Charakterzüge aufgegeben und zugleich lobenswerte Charaktereigenschaften kultiviert werden, so dass es uns gelingt, ein ehrbares und würdevolles Leben zu führen, wie es sich für ein menschliches Wesen geziemt.
Wenngleich die Seele des Menschen himmlischen Ursprungs ist, ist sein Körper doch aus Erde erschaffen. Während die Seele schließlich zu Allāh, dem Erhabenen, zurückkehrt, wird der Körper wieder zu Erde. In physischer Hinsicht trägt der Mensch viele Eigenschaften anderer Lebewesen in sich. Genau dies ist der Grund, weshalb das Ego mithilfe einer spirituellen Erziehung diszipliniert und geläutert werden muss, um so die Seele zu stärken. Andernfalls ist man nicht davor gefeit, in der äußeren Welt den teuflischen Kräften Schaytāns und innerlich den ungezügelten Begierden des Egos zum Opfer zu fallen, wodurch die Seele mehr und mehr geschwächt wird. Im Heiligen Qur’ān heißt es: {Bei dem Selbst, und Dem, der ihm seine Gestalt verliehen und ihm dann Sittenlosigkeit oder Gottesfurcht eingegeben hat; erfolgreich wird gewiss der sein, der es läutert, und verloren ist gewiss derjenige, der es verkommen lässt.}
Der ehrwürdige Meister Jalāl al-Dīn Rūmī erklärt die in diesen Versen beschriebenen, in der inneren Welt des Menschen widerstreitenden Kräfte des Frevels und der Gottesfurcht in folgendem Gleichnis:
O Reisender auf dem Weg zu dem Allwahren, wenn du wissen willst, was die Wahrheit ist, dann wisse: Weder Mūsā noch Fir‘aun sind tot. Sie beide leben in dir, sie sind in deiner Existenz verborgen und setzen ihren Kampf in deinem Innern fort. Darum suche nach ihnen in dir selbst!
Und Maulānā Rūmī fährt fort:
Gib deinem Körper nicht zuviel an Nahrung, denn er wird am Ende doch der Erde geopfert! Versuche stattdessen, deiner Seele Nahrung zu geben, denn sie ist es, die in den Himmel aufsteigen und der die höchste Ehre zuteil werden wird!
Gib deinem Körper nur kleine Bissen fettiger süßer Nahrung, denn wer ihm zuviel davon gibt, wird zum Sklaven seines Egos und nimmt ein böses Ende! Gib deiner Seele geistige Nahrung, reife Gedanken, feines Verstehen und spirituelle Ernährung, sodass sie, ausgerüstet mit Stärke und Kraft, zu dem ihr bestimmten Ort gelangen kann!
Ein Ego ohne charakterbildende Erziehung ist wie ein Baum mit verfaulten Wurzeln, bei dem die Anzeichen der Fäulnis an Zweigen, Blättern und Früchten erkennbar sind. Wenn im Herzen eine Krankheit wohnt, tritt diese durch die Handlungen des Körpers in Erscheinung und der Schaden, den sie anrichtet, wird sichtbar. Zu den Symptomen solcher Krankheiten, die dringender Behandlung bedürfen, gehören Arglist, Neid, Hochmut und viele ähnliche Eigenschaften des Egos. Das Kurieren dieser negativen Eigenschaften setzt als Erstes eine Orientierung hin zu dem von Allāh gewünschten und aufgezeigten Weg voraus.
Um eine Persönlichkeit zu entwickeln, die Allāh, dem Erhabenen, wohlgefällig ist, bedarf es zweier grundlegender Neigungen, nämlich der Bereitschaft, „sich ein Beispiel zu nehmen“, sowie der Tendenz des Menschen, nachzuahmen.
Die natürliche Neigung des Menschen, sich ein Beispiel zu nehmen und nachzuahmen
Praktisch vom Augenblick seiner Geburt an benötigt der Mensch ein Vorbild. Sämtliche Ideen, Überzeugungen und Verhaltensweisen, die das Leben eines Menschen prägen, wie Sprache, innere Werte oder Charaktereigenschaften, werden durch Vorbilder in seiner Umgebung und die von diesen vermittelten Eindrücke bestimmt. Dies ist, von einigen, wenigen Ausnahmen abgesehen, die Norm. Ein Kind lernt zum Beispiel zuerst die Sprache seiner Eltern; das anschließende Erlernen einer zweiten, dritten oder vierten Sprache bedarf weiterer Vorbilder. So besteht die Erziehung eines Menschen – abgesehen von einigen sekundären Faktoren – vorwiegend in nichts anderem, als ihn, entsprechend seiner angeborenen Neigung zur Nachahmung, das, was die Vorbilder in seiner Umwelt ihm sowohl an positiven wie an negativen Inhalten anbieten, nachahmen zu lassen. Auf diese Weise entwickelt sich ein Mensch infolge der Nachahmung seiner Eltern, Familienangehörigen und anderer Menschen in seiner Umgebung entweder zu einem guten oder zu einem schlechten Mitglied der menschlichen Gesellschaft.
Während jedoch das Erlernen einer Sprache und ähnlicher äußerer Fähigkeiten im Allgemeinen relativ problemlos ist, treten bei der Formung der religiösen, moralischen und spirituellen Innenwelt des Menschen häufig große und schwerwiegende Hindernisse auf. Denn die auf den Menschen entsprechend dem göttlichen Willen zum Zwecke der Prüfung einwirkenden Kräfte, wie Schaytān und sein Ego, sind ohne Unterlass bemüht, ihn von der Nachahmung all dessen, was gut und vorzüglich ist, abzuhalten. Wenn also in diesen Bereichen keine Erziehung entsprechend dem gottgegebenen Weg der Propheten und der rechtschaffenen Gottesfreunde stattfindet, wird der Mensch unfähig, sich vor diesen zerstörerischen Kräften, welche ihn in die Abgründe der Achtlosigkeit, Irreleitung und Rebellion stürzen wollen, zu retten, so dass er sein Potential, ewige Glückseligkeit zu erlangen, verliert und stattdessen einem leidvollen Untergang entgegensieht.
Der Zustand jener, die sich gewisse Prominente oder Stars, die selbst in den Sümpfen der verschiedensten Arten übertriebener Genüsse versinken, zu Vorbildern erküren und diesen – sehr zu ihrem eigenen Schaden im Diesseits wie im Jenseits – nachzueifern versuchen, bedeutet eine rücksichtslose Verschwendung menschlichen Potentials und ist zugleich ein unübersehbares Zeichen des Bankrotts der Zivilisation. Dabei wird das Herz in schändlicher Weise zu Grunde gerichtet, indem auf seinem erhabenen Thron, der vollkommen verwaist leer steht, absolut ungeeignete Schranzen platziert werden, nur um diesen überhaupt mit irgend etwas zu besetzen.
Indem er die Tricks des menschlichen Egos in konkreten Beispielen beschreibt, illustriert Maulānā Rūmī in den folgenden Zeilen, auf welch sonderbare Weise sich der Mensch betrügen lässt:
Es verwundert nicht, dass ein Lamm vor einem Wolf flieht, denn der Wolf ist ein Feind des Lammes und sein Jäger. Wenn sich jedoch ein Lamm in einen Wolf verliebt, sollte dies sicher Anlass zur Verwunderung geben.
Manch ein Fisch, der in sicheren Gewässern schwimmt, wird, vom Angelhaken erwischt, zum Opfer seiner eigenen Gier nach Futter.
Aus diesem Grund benötigen die Menschen jene mit empfindsamen Seelen und einfühlsamen, mitfühlenden Herzen ausgestatteten Führer, die sie mit Weisheit vor den Fallstricken ihrer eigenen Egos bewahren und sie rechtleiten.
Die vorbildlichen Persönlichkeiten der Propheten
Da Zuneigung und Bewunderung für einen Menschen, ebenso wie das Bemühen seine Charakterzüge nachzuahmen, einer natürlichen Neigung entspringen, ist es von entscheidender Bedeutung, möglichst vollkommene Vorbilder zu finden, um diesen dann nachzufolgen.
Aus eben diesem Grund hat Allāh, der Erhabene, in seiner grenzenlosen Freigiebigkeit der Menschheit nicht nur heilige, offenbarte Schriften zukommen lassen, sondern ihr darüber hinaus, als lebendige Verkörperung dieser Bücher, Seine mit zahllosen höchst vortrefflichen Eigenschaften ausgestatteten Propheten gesandt.
Diese Propheten sind derart vorbildliche Persönlichkeiten, dass sie in jeder Hinsicht die höchste Vollendung sowohl in der Religion als auch im Wissen und in ihren Charaktereigenschaften repräsentieren. Im Laufe ihrer langen Geschichte hat jeder dieser Propheten der Menschheit durch sein exzellentes beispielhaftes Verhalten wahrhaft unschätzbare Dienste erwiesen.
Was nun die Gottesfreunde, die wahren, rechtmäßigen Erben der Propheten, anbelangt, so sind sie jene mit Gottes-erkenntnis ausgestatteten, rechtschaffenen und vollendeten Gläubigen, die
– in vollkommener Weise die inneren und äußeren Aspekte der Religion vereint im Wesen ihrer Persönlichkeit eingraviert,
– durch Weltentsagung und Gottesfurcht auf dem Weg des Herzens weite Strecken zur Perfektion zurückgelegt
– sowie eine die Horizonte des Diesseits und des Jenseits umspannende Tiefe der Empfindungen und Innigkeit aufrichtigen Glaubens verwirklicht haben
– und deren ganzes Streben darauf ausgerichtet ist, die Menschheit von den üblen Eigenschaften und finsteren Abgründen des Egos zu befreien, und sie empor, zu den Himmeln spiritueller Vollkommenheit edlen Charakters, zu führen.
Diese rechtschaffenen Gottesfreunde stellen über die Zeitalter hinweg die von verschiedenen Propheten ausgebildeten, höchsten Gipfel vollkommenen menschlichen Handelns dar – überragende Persönlichkeiten, denen zu folgen all jenen obliegt, denen nicht das Glück vergönnt war, persönlich einem der Propheten zu begegnen. Sie artikulieren in einer die Herzen von Neuem belebenden Sprache der Barmherzigkeit jene prophetischen Lehren und Ratschläge, die in ihrer Essenz Tropfen vom Quell der Spiritualität des Prophetentums sind.
Wo auch immer in dieser Welt unter den Menschen Gerechtigkeit herrscht, wo ein Band der Barmherzigkeit und des Mitgefühls sie miteinander verbindet, wo die Reichen den Armen beistehen und sie unterstützen, wo die Starken die Schwachen beschützen, wo die Gesunden den Kranken helfen und die Wohlhabenden die Hilflosen und Waisen versorgen, da sind all diese Tugenden ohne den Hauch eines Zweifels auf das Wirken der Propheten und jener, die ihrem Weg folgen, zurückzuführen.
Die Familie der Menschheit, die ihren Anfang mit dem ehrwürdigen Propheten Ādam und seiner Ehefrau Hawwa nahm – möge Allāh ihnen beiden Frieden schenken – wählte sich, während sie in Glück und Zufriedenheit ihre Religion lebte, den Ort Mekka, an dem heute die Ka‘ba steht, als erste Gebetsstätte aus. Die folgenden Kinder Ādams verteilten sich infolge natürlicher und sozialer Gegebenheiten über die gesamte Welt und lebten, angeleitet von den Propheten, die von Zeit zu Zeit gesandt wurden, ihr Leben entsprechend der Religion.
Jedes Mal, wenn die göttliche Wahrheit von Verfälschern der Religion oder von Unwissenden mit Unwahrheit vermischt und entstellt wurde, entsandte Allāh, der Erhabene, Propheten, durch die Er diese Verfälschungen rückgängig machte und die Religion von Neuem belebte. Immer wieder wurde die Menschheit in ihrer Geschichte auf diese Weise durch die Gnade Allāhs vor individuellen und gesellschaftlichen Krisen bewahrt, bis sie schließlich die Endzeit erreichte.
Schließlich – zu einem Zeitpunkt, der, wenn man das Zeitalter dieser Welt mit einem Tag vergleicht, der Zeit des Nachmittagsgebets [‘Asr] entspräche – brach das als ‘Asr al-Sa‘āda bezeichnete Goldene Zeitalter der Glückseligkeit an, in welchem genau an jenem Ort, an dem das religiöse Leben einst begonnen hatte, das vollkommenste aller Vorbilder, der ehrwürdige Prophet Muhammad al-Mustafā den Nachfahren Ādams ein letztes Mal die göttliche Wahrheit überbrachte und darlegte. Eine Vollkommenheit, die diesen höchsten Gipfel der Vollkommenheit des Propheten Muhammad überträfe, ist absolut unvorstellbar, denn durch ihn ging die beständige Wiederbelebung der Religion durch die Entsendung der Propheten zu Ende und der Islam (in seiner vom Siegel der Propheten verkündeten Form) wurde von Allāh, dem Erhabenen, zu der Ihm wohlgefälligen Religion bestimmt.
So können wir sagen, dass Allāhs ehrwürdiger Gesandter, der sein ganzes Leben lang bei zahllosen Gelegenheiten die höchsten Tugenden verwirklichte und vorlebte, das perfekteste und der natürlichen Neigung des Menschen zur Nachahmung am vollkommensten entsprechende Beispiel verkörpert. Wie weit das Bemühen, ihm nachzueifern, von Erfolg gekrönt ist, hängt zweifellos vom Grad unserer Bewunderung für seinen edlen Charakter und seine Persönlichkeit sowie vom Ausmaß und der Aufrichtigkeit unserer Liebe zu ihm selbst ab.